„Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug:
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.
O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
nach und nach in uns holde Gewohnheit entspross,
Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte,
und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.
Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten,
still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn!”
Was sich mit Macht aus unserem Innern enthüllt: der Kokon im Kokon,
das endlose Gedicht! „Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.”
Goethes Zeile kann durchaus als eine Beschreibung des künstlerischen Prozesses gelesen werden.
Mir scheint, die Kokons von Gabriele Kaiser-Schanz atmen diese Luft der Poesie.
Sie sind ästhetisch nicht nur in ihrer stofflichen Gestalt, sondern auch im Blick auf das,
was sie in uns wachrufen können. Indem die Form aufgelöst wird,
löst sie Vorstellungen von Schönheit aus. Genauer: setzt sie frei.
Nun, sowohl Goethe als auch Stevie Wonder haben heutzutage im Museum der Poesie ihre Plätze und harren dort der Entdeckung. Es sind nunmehr Sprachgehäuse der Stimmen von damals, die verklungen sind. Wir stehen vor der Aufgabe, eigene Gehäuse zu bilden.
So sehen wir am Ende unseres Weges durch den Ausstellungssaal neben der Treppe eine Vitrine,
die sechs kleinere Kokons zeigt. Es gibt keinen Hinweis darauf,
welchem Leben sie einmal Schutz gaben; sie können ihn auch gar nicht geben,
da sie lediglich Artefakte und keine natürlichen Kokons sind. Hinter Glas sind sie unberührbar,
wie für die Ewigkeit konserviert. Relikte aus Papier, im Museumsraum vor der Zerstörung geschützt.
Sie wirken wie Gedankenanstöße, wie Appelle an das Gedächtnis.
Weißt du noch? Der lange Weg der Verwandlung und des Werdens.
Der Weg der Befreiung von den Fesseln, vom Korsett der Konventionen.
Das sich immer wieder erneuernde Gespinst des Lebens, an dem wir mitzuweben haben.
Allerdings ist hier an der Vitrine die Ausstellung noch keineswegs zu Ende.
Sie setzt sich draußen fort, wo sich unter freiem Himmel ein noch größerer Raum auftut.
Kokons liegen da auf dem Gras, leibhaft, es sind keine Fotos.
Die leibhafte Darstellung der Künstlerin am Anfang ihrer Stationen
mündet in die reale Situation des Lebens, das unter dem Gesetz der Vergänglichkeit steht.
Die Spuren werden verschwinden. Das, wovon sie sprachen, wird bleiben.
Laudatio zur Vernissage der Ausstellung von
Gabriele Kaiser-Schanz im Papiermuseum
Gleisweiler/Pfalz
am 20. Juli 2008
© Erhard Domay