Papiermuseum Gleisweiler

 
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5. Die Sensitivität der Einfachheit

Die Wahrnehmung des Geistigen im Körperlichen kann sehr gut in der Poesie dargestellt werden. Sie ist deshalb eine geeignete Entwicklungshelferin für die Erkenntnis des vollkommenen Einfachen.
Die Objekte von Eberhard Freudenreich stehen in meinen Augen unzweifelhaft mit der Poesie in vertrauter Beziehung. Sie sind ja wie sie verdichtete Botschaften, konzentrierte Gebilde, elementare Konstruktionen. Gerade weil sie sich nicht sinnlich überschwänglich präsentieren, provozieren sie unsere Sinne. Gerade weil sie uns zunächst befremden, ja verwirren mögen, wecken sie unsere Neugierde und wir wollen mehr von ihnen wissen. Wir ahnten ja von Anfang an, dass sie uns einiges verschweigen.
Diese bizarren Objekte, die zwischen Himmel und Erde hängen, als wären sie aufgehalten worden auf ihrem Sinkflug - ähneln sie nicht ein wenig den Schneeflocken, die aus einer Unzahl von Kristallen bestehen und die alle miteinander verwandt sind durch ihre Struktur? Erinnern sie nicht beispielhaft an etwas, was normalerweise für unsere Augen nicht zu sehen ist, in diesem Fall an die Kraft zu kristalliner Formbildung im flüssigen Wassertropfen? Also an eine verborgene, vollkommene Form? An den Teil einer umfassenden Realität?
Gerade, wenn wir nicht alles sehen, zeigt sich uns manchmal das wunderbare Ganze.

Der chinesische Dichter Sengyo hat in einem Haiku jene Sensitivität der Einfachheit vorgeführt, die mir auch in den Objekten von Eberhard Freudenreich begegnet. Sengyos Text ist ein dichtes, reduziertes Bild, das mit einer zauberhaften Leichtigkeit hingetuscht ist und doch in den Ernst und die Tiefe des Daseins zielt.

Die weißen Lotos
Nur wie ein Schatten noch
Im Schein des Mondes.

Alles steht in der polaren Spannung zwischen Nachtschwarz und Mondweiß. Dazwischen entwickelt sich das lebendige Bild. Zwischentöne werden vorstellbar; der Zeitenlauf ist als leise Bewegung zu spüren. Und so entsteht der einmalige Augenblick: Der Widerschein des weißen Mondlichts leuchtet auf in den Lotosblüten. Doch das leuchtende Weiß wird gedämpft, und die Lotosblüten erscheinen wie Schatten ihrer selbst. Schließlich werden sie selbst zum Schatten. Ein paradoxes Bild: der unkörperlich scheinende Lotos, der doch eigentlich ganz körperhaft ist. Ins Licht getaucht ist er auf einmal ein Schatten im Schattenreich.

Poesie öffnet wie die bildende Kunst unsere Augen. Dabei kommt es nicht darauf an, zu sehen, was wir immer schon sahen, sondern darauf, dass wir sehen lernen, was wir noch gar nicht sahen oder noch nicht so sahen.
Die Objekte von Eberhard Freudenreich sind eine Schule des Sehens in diesem qualifizierten Sinn. Am besten betrachten wir sie schweigend und lassen im Schweigen gut sein, was uns üblicherweise an Reizen überflutet und was uns um unseren klaren Blick zu bringen droht.

Zum Schluss (als Einladung zum Verweilen in der Ausstellung und weil Frühling ist) noch ein Haiku, eines von Issa:

Sogar mein Schatten
Ist munter und kerngesund
Am Frühlingsmorgen!


Laudatio zur Vernissage der Ausstellung von
Eberhard Freudenreich im Papiermuseum Gleisweiler/Pfalz
am 5. April 2009    © Erhard Domay

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